Anthroposophie, Judentum und Antisemitismus

Anthroposophie, Judentum und Antisemitismus

04 Februar 2025 Constanza Kaliks & Peter Selg 386 mal gesehen

Im Forschungsprojekt ‹Anthroposophie, Judentum und Antisemitismus› geht es um Klärungen der Haltung von Rudolf Steiner, der Anthroposophie und der Anthropo­sophischen Gesellschaft gegenüber dem Judentum


Finden sich antisemitische Aspekte in der Biografie von Rudolf Steiner und in seinem Lebenswerk? Welche Rolle spielte das Juden­tum in der Anthroposophie und der Anthroposophischen Gesellschaft? Wurde es nur als Relikt der Vergangenheit gesehen, das zugunsten der Anthroposophie und des Christentums ‹überwunden› werden sollte – oder fand auch eine positive, zukunfts­gewandte Rezeption statt, unter Aufgreifen der spirituellen Neuentwicklungen im Juden­tum des 20. Jahrhunderts (Dialog­philosophie, jüdische Mystik und andere)?

Der Antisemitismus-Vorwurf gegen Rudolf Steiner und die Anthroposophie ist seit etwa vier Jahrzehnten Thema des öffent­lichen Diskurses. Er wird in gesellschaftlichen Krisenzeiten je neu und mit zunehmender Schärfe artikuliert, zum Teil auch instrumentalisiert und strategisch eingesetzt. Ausgeblendet wird Rudolf Steiners massive Kritik des Antisemitismus sowie die Tatsache, dass Juden in der Anthroposophischen Gesellschaft – auch in Leitungspositionen – im gesamtgesellschaftlichen Vergleich stärker vertreten waren. Übersehen – oder bewusst verschwiegen – wird auch, in welchem Ausmaß Rudolf Steiner und die Anthroposophische Gesellschaft aufgrund ihrer praktizierten ‹Judenfreundlichkeit› von rechtsradikal-nationalsozialistischen Kreisen angegriffen wurden. Nahezu völlig unthematisiert blieb bisher, dass Rudolf Steiners weitsichtige Kritik am politisch-nationalstaatlichen Zionismus (nicht dagegen am kulturellen Zionismus Martin Bubers, dem er positiv gegenüberstand) von vielen zeitgenössischen und späteren Denkern geteilt wurde.

Humanistisches Zukunftspotenzial

Das Projekt ‹Anthroposophie, Judentum und Antisemitismus› in der Allgemeinen Anthroposophischen Sektion wurde 2021 mit der Vorlesungsreihe zum jüdischen Humanismus am Goetheanum begonnen (über Martin Buber und Franz Rosenzweig) und dann fortgeführt:

• 2022: Primo Levi, Hans Jonas, Hannah Arendt, Simone Weil

• 2023: Gustav Landauer, Maria Darmstädter, Emanuel Levinas, Paul Celan

• 2024: Margarete Susman, Franz Kafka, Gershom Scholem

• 2025: Hugo Bergman und Ernst Müller

Drei Buch-Publikationen aus der Veranstaltungsreihe liegen bereits vor,[1] weitere sind in Vorbereitung. Aufgezeigt werden soll an ausgewählten jüdischen Denkern des 20. Jahrhunderts auch, welch humanistisches Zukunftspotenzial in ihren anthropo­logischen Ansätzen lebt und welche Kon­vergenzen mit anthroposophischen Perspektiven, ja mit der gesamten Hochschul­konzeption Rudolf Steiners existieren.[2]

Studium Rudolf Steiners

Am 1. April 1925, zwei Tage nach dem Tod Rudolf Steiners, wurde die Hebräische Universität am Mount Skopus in Jerusalem eröffnet. «Es ist äußerst bezeichnend, dass die Sprecher, die am konsequentesten und deut­lichsten für jüdisch-arabische Verständigungen eintraten, von der Hebräischen Uni­versität kamen», schrieb Hannah Arendt;[3] an dieser Universität wirkten Gershom Scholem, Martin Buber, Hugo Bergman und viele andere. Franz Kafkas Schulfreund Hugo Bergman übernahm als Lehrstuhlinhaber für Philosophie 1935 die Präsidentschaft der Universität und setzte sich bereits ab 1920 für die Verwirklichung der sozialen Dreigliederung und die Überwindung nationalstaatlichen Denkens in Israel ein. Er studierte lebenslang Rudolf Steiners Werk und ehrte ihn mit einer bedeutenden Ansprache zu dessen 100. Geburtstag an der Universität.[4]

Lesen Sie den ursprünglich in Anthroposophie weltweit erschienenen Artikel


Titelbild: Der junge Gershom Scholem sitzt in einer Laubhütte und studiert den Sohar (1923); Fotograf unbekannt. Quelle: Nationalbibliothek Israel, Wikimedia, CC BY-SA 2.0. https://snl.no/Gershom_Scholem.

Fußnoten
1 Vgl. Peter Selg, Constanza Kaliks: Die Gegenwart des Anderen. Über Martin Buber und Franz Rosenzweig, Dornach 2022; Constanza Kaliks, Peter Selg, Udi Levy, Iftach Ben Aharon: Anthroposophie, Judentum und Antisemitismus, Dornach 2023; Peter Selg, Constanza Kaliks: Widerstand und Verantwortung – Primo Levi, Simone Weil, Hannah Arendt, Hans Jonas, Dornach 2023
2 Vgl. Constanza Kaliks: Die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft und der jüdische Humanismus; in: Constanza Kaliks, Peter Selg, Udi Levy, Iftach Ben Aharon: Anthroposophie, Judentum und Antisemitismus, Dornach 2023, Seite 151–175
3 Zit. nach Peter Selg: Hannah Arendt, die Shoa und das Ringen um Israel, Arlesheim 2024
4 Vgl. Peter Norman Waage: Eine herausfordernde Begegnung. Schmuel Hugo Bergman und Rudolf Steiner, Dornach 2006