Dachau-Demeter-Weleda
Historische Studien und geschichtliche Wirklichkeit
‹Ökoprodukte für Nazis›, so hat das Nachrichtenmagazin ‹Der Spiegel› einen Artikel in seiner Ausgabe vom 5. September 2025 überschrieben. Im Untertitel heißt es: «Im Konzentrationslager Dachau experimentierte die SS mit anthroposophischen Methoden und Mitteln – unter Einsatz von Zwangsarbeit. Auch die Naturkosmetikfirma Weleda spielte dabei eine Rolle.» Fotografien von Rudolf Steiner und Margarete Himmler, der Ehefrau des SS-Chefs, waren zu sehen, sodann ein Logo der Weleda, Sigmund Rascher und ein anderer SS-Arzt bei Menschenversuchen an KZ-Häftlingen in Dachau, Fotos von Häftlingen bei der Zwangsarbeit, von Gebäuden des Dachauer SS-Betriebes der Deutschen Versuchsanstalt für Ernährung und Verpflegung (DVA) – und ein Bild der Historikerin Anne Sudrow. Die Reportage diente als werbewirksame Vorankündigung zu ihrem Buch ‹Heil Kräuter Kulturen. Die SS, die ökologische Landwirtschaft und die Naturheilkunde im KZ Dachau›, das wenige Wochen später beim Verlag Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen erschien und dem Nachrichtenmagazin vorab zugänglich gemacht worden war.
Ein «Netzwerk von AnthroposophInnen in der SS»?
In seinem Artikel referiert der ‹Spiegel›-Autor Stefan Hunglingern aus der Monografie, geht aber auch mit der Historikerin über das Gelände der ehemaligen DVA-Anlage. Er betont mit ihr, dass es innerhalb der SS ein aktives «Netzwerk von AnthroposophInnen» gegeben habe, bestehend aus biologisch-dynamischen Landwirten, Gärtnern und einem SS-Arzt (Sigmund Rascher), die im Kontext des KZ Dachau nicht Opfer, sondern Täter gewesen seien und eigene Interessen verfolgt hätten. Basierend auf den vermeintlichen Forschungen des «Hellsehers» Steiner seien bereits in den 1920er-Jahren profitable anthroposophische Unternehmen entstanden (darunter der Arzneimittelhersteller Weleda); insbesondere die biologisch-dynamische Landwirtschaft habe dann in der Nazi-Zeit die besondere Förderung der SS erfahren, namentlich als Instrument zur Bewirtschaftung des neuen «Lebensraumes» nach den Eroberungen in Osteuropa im Zuge des Zweiten Weltkriegs. Im DVA-Betrieb der SS in Dachau hätten der ehemalige Chefgärtner der Weleda, Franz Lippert, und ein weiterer Gärtnerkollege der Weleda, Erich Werner, botanische Studien auf dem riesigen, von Häftlingen bewirtschafteten Areal durchgeführt; Lippert sei dabei ebenso wie der SS-Arzt Rascher, der grausame Menschenversuche (Unterdruck und Kälte) im Versuchsblock 5 des KZ machte, mit der Weleda verbunden gewesen. Das damals agierende anthroposophische «Netzwerk» innerhalb der SS sei bis heute gezielt «verschleiert» worden; Konsumenten von Demeter- oder Weleda-Produkten sollten sich, so Hunglingern und Sudrow, bewusst sein, welche menschenverachtende Förderung deren Herstellern vor nicht langer Zeit zuteilgeworden sei und welche Kollaboration mit dem NS- und SS-Gewaltstaat den moralisch belasteten Erzeugnissen zugrunde liege. Lässt man sich, so die implizite ‹Spiegel›-Aussage, mit Demeter oder der Weleda ein, so wird man zum späten Nutznießer der NS-Konzentrationslager, der Arbeitskraft, des Blutes und der Asche unschuldiger Menschen.
Nicht aufgearbeitet und verschleiert?
Bis auf wenige Einzelheiten beschreibt der Artikel Sachverhalte, die seit Jahrzehnten durch historische Studien und Publikationen bekannt sind – allerdings in gezielter Zuspitzung und tendenziöser Interpretation. Die Weleda-Frostcreme-Lieferung an Sigmund Rascher im Januar 1943 wurde Anfang 1981 durch Götz Aly publik gemacht. 1991 bis 1993 publizierte Arfst Wagner in fünf Bänden ‹Dokumente und Briefe zur Geschichte der Anthroposophischen Bewegung und Gesellschaft in der Zeit des Nationalsozialismus› aus staatlichen wie privaten Archiven (Band III: ‹Biologisch-dynamische Wirtschaftsweise. Materialien über Sigmund Rascher›). Uwe Werner berücksichtigte 1999 alles ihm bis dahin zugängliche Material zur Beziehung zwischen dem Reichsverband für biologisch-dynamische Landwirtschaft und Gartenbau und der SS sowie der DVA, auch zu Franz Lippert und Sigmund Rascher in seiner umfangreichen Monografie ‹Anthroposophen in der Zeit des Nationalsozialismus›. Zahlreiche weitere Publikationen zu Lippert und der DVA folgten, darunter die Arbeit von Jens Ebert, Tanja Kinzel, Meggi Pieschel und Kristin Witte (2021). Im Frühjahr und Frühsommer 2024 sowie im Frühsommer 2025 (zwei Monate vor der Monografie Sudrows) sind schließlich drei umfangreiche Bände zur biodynamischen Bewegung in der NS-Zeit sowie zur anthroposophischen Ärzteschaft und zu den anthroposophischen Arzneimittelherstellern (1933–1945) erschienen – als Ergebnis mehrjähriger Forschungsprojekte und unter Mitbeteiligung wissenschaftlicher Fachbeiräte ohne jeden Bezug zur Anthroposophie. Das dokumentarische Material, soweit es der Anthroposophie nahestehende Personen oder Institutionen betraf, ist damit weitestgehend schon vor Anne Sudrow ebenso umsichtig wie kritisch aufgearbeitet, und nicht etwa gezielt «verschleiert» worden.
Verdienste und Entgleisungen einer von öffentlicher Hand geförderten Studie
Von bleibendem Wert an Sudrows Buchpublikation – im Impressum mit den Logos der KZ-Gedenkstätte Dachau, des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien und des Bayrischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultur versehen – sind die Ausführungen zur DVA-Anlage in Dachau, zur Entstehungsgeschichte und zum Kontext des ausgedehnten Betriebes, in dem in erster Linie Gewürz- und Heilkräuter in großem Umfang angebaut, erforscht und vertrieben wurden, unter Einsatz von bis zu tausend Zwangsarbeitern (KZ-Häftlingen). Von bleibendem Wert sind auch Sudrows eindringliche Schilderungen und Zeugnisse der harten Arbeitsbedingungen der Häftlinge sowie der konkreten Forschungsprogramme, die in der ab April 1940 überwiegend biologisch-dynamisch bewirtschafteten Pflanzenanlage betrieben wurden, darunter die botanischen Studien Franz Lipperts. Sudrow hat diese Programme erstmals im gesamten Umfang rekonstruiert. Die Autorin sieht die DVA-Anlage in Dachau nicht nur als Zentrum der wissenschaftlichen Lehre und Forschung im Bereich des ökologischen Land- und Gartenbaus in der Zeit des Nationalsozialismus, sondern auch der «Alternativmedizin» und der «Neuen Deutschen Heilkunde». Mit dieser medizinhistorischen Einschätzung schießt sie sehr wahrscheinlich über ihr Ziel hinaus; zweifellos richtig ist dagegen, dass die SS unter Himmler sich als Elite verstand, das Mandat für die operative Siedlungspolitik in den von Deutschland eroberten Gebieten hatte – und in ihren DVA-Gütern Grundlagenarbeiten und Praxistests in dieser Perspektive durchführen wollte. Zu den vordringlichen Interessen Sudrows gehören dabei Mitarbeiter und eine Mitarbeiterin aus der biologisch-dynamischen Bewegung, die ein unterschiedliches Verhältnis zur Anthroposophie hatten, aber mit ihr in einer Beziehung standen.
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