Das Drama von Weimar-Buchenwald – Annäherung an die geschichtliche Wahrheit
Studierende aus 11 Ländern nehmen seit Herbst 2022 am einjährigen Anthroposophie-Kurs in englischer Sprache am Goetheanum teil, im Rahmen der Abteilung «Studium und Weiterbildung» der Allgemeinen Anthroposophischen Sektion. Sie kommen von weither, von Argentinien bis Südkorea, um an der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft in Dornach/Schweiz das Lebenswerk Rudolf Steiners und seine Wirksamkeit in der Welt tiefer kennenzulernen. Lektüre und Unterricht durch Sektionsleiter und -mitarbeiter vieler Fachbereiche der Hochschule stehen im Zentrum des Studiums, wissenschaftliche und künstlerische Arbeiten.
Mit finanzieller Unterstützung der Deutschen Landesgesellschaft waren wir in der Zeit vom 17. bis 19. April 2023 in Weimar und Buchenwald für ein Intensivseminar – in den Häusern von Goethe und Schiller, im Nietzsche-Archiv, in der Gedenkstätte Buchenwald und in den Räumen der Anthroposophischen Gesellschaft und der Christengemeinschaft. Ziel des Studienaufenthaltes war die Gewinnung eines vertieften Bildes der siebenjährigen Arbeit Rudolf Steiners in Weimar (1890-1897), inhaltlich und kontextuell, und darüber hinaus eines Verständnisses dieser besonderen Stadt in der Geistesgeschichte Deutschlands und Europas – sowie die Beschäftigung mit dem KZ Buchenwald in nächster Nähe. «K.L. Buchenwald, Post Weimar», so die offizielle Bezeichnung des – eingemeindeten – Lagers, dessen Kommandantur mit Hilfe des Weimarer Telefonbuches ab 1937 einfach anzuwählen war. Ein Bus fuhr vom Weimarer Stadtzentrum zur Station „Buchenwald (Lager)“ und nicht weniger als 40 Weimarer Firmen und Gewerke profitierten durch lukrative Aufträge des Lagers. Immer mehr Häftlinge waren Teil von Arbeitskommandos in der Stadt, die Gefangenen wurden in der Rüstungsindustrie (Gustloff-Werke), auf Baustellen und in vielen Kleinbetrieben eingesetzt und waren täglich in der Stadt zu sehen. Das KZ Buchenwald wurde, so Peter Merseburger, „Weimars Zwillingsort“, mitten in Deutschland, vor aller Augen, öffentlich.
Mit den Studierenden wurde die Frage bewegt, wie all dies zu verstehen ist – wie konnte es kommen, dass in nächster Nähe zu einem progressiven künstlerisch-geistigen Zentrum des Humanismus das genaue Gegenteil entstand? Zwischen 1937 und 1945 waren in Buchenwald mehr als eine Viertel Million Menschen aus 26 Nationen inhaftiert, von denen jeder Fünfte starb. „Medizinische“ Menschenexperimente, darunter Impfversuche durch das Robert Koch-Institut in Zusammenarbeit mit der deutschen Großindustrie und der SS, wurden durchgeführt – in unvorstellbarer Grausamkeit. War Buchenwald die Konsequenz von Weimar, der monumentalen deutschen Klassik, der heroischen Selbstüberschätzung des germanischen Imperialismus? Besteht hier am Ende ein Verhältnis der „Resonanz“ (im Sinne von Hartmut Rosa) und gehört Rudolf Steiner zu einer hochproblematischen Linie deutscher Entwicklung, der Linie des „spirituellen Rassismus“ (Staudenmeier) und der hierarchischen Selektion, wie dies medial von Anthroposophie-Kritikern vermittelt wird – und Studierende der Anthroposophie aus aller Welt verunsichert?
Die Lebenswirklichkeit spricht vom Gegen- teil. Studiert man die Werke, die Steiner in Weimar schuf („Wahrheit und Wissenschaft“ „Philosophie der Freiheit“, „Friedrich Nietzsche. Ein Kämpfer gegen seine Zeit“, „Goethes Weltanschauung“) sowie die sieben Bände der Sophien-Ausgabe Goethes, die er von 1890 bis 1897 in Weimar mit mehr als 3000 Druckseiten herausgab, so erschließt sich sein Einsatz für ein „anderes Deutschland“ und eine neue Natur- und Geisteswissenschaft humanistischer Prägung. Werkbiographisch deutlich wird jedoch auch, welchen schweren Stand Steiner in Weimar hatte, wie die nationalkonservative Musealisierung und Instrumentalisierung Goethes und Schillers dort bereits in den 1890er Jahren betrieben wurde und mit welchen Widerständen der „Philosoph der Freiheit“ sich auseinandersetzen musste, trotz seiner ganzen Liebe zur Stadt und seiner Beziehung zu den Intentionen der Verstorbenen.
Als Rudolf Steiner 1924 auf seinem Krankenlager erinnernd über Weimar schrieb, begann der Nationalsozialismus seinen Siegeszug durch die Stadt, unter Artur Dinter, dem ersten nationalsozialistischen Fraktionsführer im thüringischen Landesparlament, der sich über die „Satanosophie“ des „ungarischen Juden Rudolf Steiner“ erging. Nicht nur Steiner, sondern auch das Bauhaus unter Walter Gropius, das seit 1919 Lehrer wie Paul Klee, Wassilij Kandinsky, Lionel Feininger und Johannes Itten angezogen hatte, sollte als Teil der unerwünschten Moderne aus Weimar verschwinden. Adolf Hitler, gerade aus der Landsberger Haft entlassen, war 1925 viermal in Weimar – bis 1939 sind insgesamt 35 Stadtbesuche von ihm verzeichnet. 1926 fand der erste Reichsparteitag der NSDAP im Nationaltheater von Weimar statt, mit Adolf Hitler, Heinrich Himmler, Joseph Goebbels, Alfred Rosenberg, Julius Streicher, Rudolf Heß, Wilhelm Frick und Bernhard Rust, der später als Reichserziehungsminister die Waldorfschulen schloss. Weimar sollte dem „Dritten Reich“ seine kulturelle Legitimität verschaffen und die inneren „Volksfeinde“ in einem Musterlager konzentrieren – in völliger Verfremdung dessen, was an diesem Ort im 18. und 19. Jahrhundert kos- mopolitisch veranlagt worden war.
Von dieser Dramatik im michaelischen „Zeitalter der Extreme“ (so der britische Universalhistoriker Eric Hobsbawm) handelte unser Seminar – und von den Kräften der Resistenz im Namen der Menschlichkeit. Diese Kräfte gab es selbst im KZ Buchenwald. Zu den Widerständigen des Lagers gehörte der blinde Jacques Lusseyran, der die Anthroposophie und das Goetheanum in seinem Herzen trug.
Für die Unterstützung der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland danken wir sehr herzlich!
Prof. Dr. Peter Selg