Eine Weltgesellschaft für Anthroposophie
Anfang Februar 1923, parallel zu seinen Bemühungen um eine Re-Organisation der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland (Anthroposophie Weltweit Nr. 3/2023), betonte Rudolf Steiner, dass er in nächster Zeit an eine Ordnung der «internationalen Anthroposophischen Gesellschaften» gehen wolle.
Die deutsche Anthroposophische Gesellschaft solle, so Rudolf Steiner, in Zukunft als eine Landesgesellschaft unter vielen anderen betrachtet werden; Gebot der Zeit sei die Gründung einer Weltgesellschaft und die Schaffung eines Mittelpunktes im Goetheanum.
Autonome Landesgesellschaften
In der Folge kam es 1923 zu Gründungen von anthroposophischen Landesgesellschaften in Dänemark, Finnland, Frankreich, Großbritannien, den Niederlanden, Norwegen und Österreich; eigenständige Landesgesellschaften hatten bereits ab 1913 in Schweden und ab 1920 in der Schweiz existiert. Wie Rudolf Steiner unterstrich, betrachtete er die Gründung der Landesgesellschaften als vorbereitende Schritte für die Bildung einer «internationalen Anthroposophischen Weltgesellschaft» bei einer Weihnachtstagung am Jahresende in Dornach.[1] Die ‹internationale› oder ‹allgemeine› Weltgesellschaft sollte auf Grundlage der Landesgesellschaften entstehen; diese sollten ihren Mittelpunkt in Dornach (CH) haben, direkt dort angeschlossen sein – und nicht länger an und über Deutschland. Notwendig für die Zukunft seien ein viel stärkerer Zusammenhang, ein weitaus intensiveres Zusammenwirken der «Anthroposophen aller Länder» und ein sozial-organisatorisches wie spirituelles Zentrum in der neutralen Schweiz. «Dadurch kommen wir dann zu einer Internationalen Anthroposophischen Gesellschaft, die endlich einmal wirklich arbeitet.»[2]Rudolf Steiner erwartete von den Landesgesellschaften, dass sie sich ihre Statuten selbst geben; diese sollten zum Ausdruck bringen, was die Anthroposophische Gesellschaft in den jeweiligen Ländern wolle, und Grundlage für die Weltgesellschafts-Gründung Ende des Jahres 1923 in Dornach sein. Es sei notwendig, dass sich die Anthroposophische Gesellschaft über die ganze Welt hin eine «einheitliche Struktur» gebe. Die Landesgesellschaften seien geistig gesehen wichtige Individualitäten; sie lebten in der Sprach- und Kulturgeistigkeit des jeweiligen Landes, sollten sich dann jedoch im Organ der Weltgesellschaft zusammenfinden. «Wenn wir in historischer Beziehung, für den gegenwärtigen historischen Augenblick, die Anthroposophie im richtigen Sinne erfassen wollen, so besteht sie darin, über die ganze Welt hin etwas wie ein internationales Verständigungsmittel zu finden, ein Verständigungsmittel, durch welches sich Mensch zu Mensch findet, ein Verständigungsmittel, welches gleichsam ein Niveau höher liegt als die Sprache.»[3]
Ohne Sonderinteressen von Gruppen
Alle «Sonderinteressen» von Gruppen seien in der Gegenwart schädlich: «Es ist ein geistiges Gesetz, dass eben einfach jede wirklich die Menschheit fördernde spirituelle Bewegung allgemein-menschlich sein muss.»[4] «International» bedeute in diesem Zusammenhang «allgemein-menschlich».[5] «Autonom» seien die anthroposophischen Landesgesellschaften dadurch, dass sie sich ihre Statuten selbst geben würden, neue Mitglieder selbst aufnehmen und für die anthroposophischen Angelegenheiten in ihrem jeweiligen Land selbstverantwortlich zuständig wären.Rudolf Steiner plädierte für tolerante Aufnahmebedingungen in die Gesellschaft, für «weitherzige» und «weltmännische» Statuten[6]. Die Anthroposophische Gesellschaft müsse von einem wirklichen «Weltbewusstsein»[7] gekennzeichnet sein; es sei ihre Aufgabe, die Anthroposophie in wacher Zeitgenossenschaft in der Öffentlichkeit zu vertreten, und dies in einem sachlich-objektiven Geist[8]. Die Anthroposophische Gesellschaft müsse in Zukunft von der Öffentlichkeit so ernst genommen werden wie andere Fachgesellschaften – und alles Sekten-Wesen[9] endgültig ablegen; jedes neue Mitglied müsse das Gefühl haben können, man vertrete eine «große Sache» in der Welt, wenn man Mitglied der Gesellschaft werde.[10]Das Goetheanum müsse dazu beitragen, «die anthroposophische Verständigung über die ganze Welt hinüber zu schaffen»[11], Sitz der Weltgesellschaft werden und eine innovative Freie Hochschule für Geisteswissenschaft beherbergen. In einem Vorschlag für die Statuten der niederländischen Landesgesellschaft formulierte Steiner unter anderem: «Ich meine also, es müsste [...] naturgemäß in den Statuten enthalten sein: ‹Die hier charakterisierten Bestrebungen haben ihren Mittelpunkt in alledem, was in wissenschaftlicher, medizinischer, in künstlerischer, in religiöser Beziehung ausgeht vom Goetheanum, der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft in Dornach, und daran angeknüpft werden kann.›»[12]
Initiativen für das humane Gemeinwesen
Die Aufgaben von öffentlichem Gewicht, derer sich die Anthroposophische Gesellschaft verantwortlich annehmen sollte, sah Rudolf Steiner im Zusammenhang der Hochschulabteilungen; von ihrer produktiven Arbeit sollten Impulse für verschiedene Lebensbereiche ausgehen, Initiativen für das humane Gemeinwesen der Zukunft, für deren Bekanntwerdung sich die Anthroposophische Gesellschaft weltweit einsetze. Sie unterhalte eine Hochschule, fördere und verbreite deren Arbeit, verhelfe ihr zur Wirksamkeit.[13]
Titelbild: Motiv Großer Saal des Goetheanum. Foto: Bernard Bonnamour.
Der erste Teil der Darstellungen zum Wesen der Anthroposophischen Gesellschaft erschien in ‹Anthroposophie weltweit› Nr. 3/2023.
Fußnoten
1 Rudolf Steiner: GA 259, 17. Mai 1923, 1991, Seite 471
2 GA 259, 18. November 1923 (nachmittags), 1991, Seite 670
3 GA 307, Vortrag vom 17. August 1923, 1986, Seite 253
4 GA 259, 2. September 1923, 1991, Seite 604
5 Ebd., Seite 604
6 GA, 259, 18. November 1923, 1991, Seite 674
7 GA 259, 21. Januar 1923, 1991, Seite 99
8 GA 259, Vortrag vom 18. November 1923, 1991, Seite 668
9 GA 259, 21. Januar 1923, 1991, Seite 99
10 GA 259, 17. Mai 1923, 1991, Seite 473
11 GA 259, 2. September 1923, 1991, Seite 607
12 GA 259, 18. November 1923 nachmittags, 1991, Seite 674f.
13 Vgl. Peter Selg: Die anthroposophische Weltgesellschaft und ihre Hochschule, 2023.